Konferenz
»Der Haupt­feind steht im eigenen Land«

Die jährlich stattfindenden Konferenzen gegen den deutschen Imperialismus sollen den politischen Austausch und die Zusammenarbeit derjenigen revolutionären Kräfte fördern und vorantreiben, die in der Arbeiter- und demokratischen Bewegung für die Linie »Der Hauptfeind steht im eigenen Land« kämpfen wollen.

Völkerrecht – Recht der Völker?

Erika Wehling-Pangerl

Im Herbst 1914 wurde ein vaterländisches Gedicht veröffentlicht mit der Überschrift: „Das Volk der Dichter und Denker”. Was ich euch jetzt vorlese, ist keine Satire, sondern ernst gemeint – die letzte Strophe dieses Gedichts:

Wir sind das Volk der Dichter und der Denker;

Ja, Freunde, alles wo es hingehört:

Wir sind das Volk der Richter und der Henker

Für jeden Schurken, der den Frieden stört.

Jahre später, unter dem Hitlerfaschismus, wurden die „Richter und Henker” zum geflügelten Wort.

Richter und Henker – mit den Richtern fängt es an. Bevor wir zu einem Volk der Henker gemacht werden, müssen wir erstmal ein Volk der Richter werden. Zum Beispiel mithilfe der klammheimlich verabschiedeten Verschärfung des Paragrafen 130 im Strafgesetzbuch. Mit dieser Verschärfung wird die freie Meinungsäußerung eingeschränkt einschließlich der Anmaßung, dass deutsche Gerichte über vermeintliche Menschheitsverbrechen überall auf der Welt entscheiden können und müssen, selbst über solche, über die noch kein Urteil eines internationalen Gerichts gefällt wurde. Bisher war es gemäß dem § 130 strafbar, Verbrechen des Hitlerfaschismus – die Vernichtung der Juden in Europa, den Völkermord an den Sinti und Roma sowie an den Russen, Polen und anderen in der Sowjetunion zu leugnen oder zu befürworten. Mit der Neufassung dieses Paragrafen werden diese Verbrechen gleichgesetzt mit allen möglichen vermeintlichen oder wirklichen Verbrechen auf der Welt. Zum Beispiel: Eine andere Anschauung als die regierungsoffizielle zum Ukraine-Krieg kann einen jetzt unter Umständen auf die Anklagebank neben einem den Holocaust leugnenden Nazi bringen.1 Aus demselben Grund wurde dem Antifaschisten Heinrich Bücker „Belohnung und Billigung von Straftaten” nach Paragraf 140 Strafgesetzbuch vorgeworfen. Er konnte sich zwar formal-juristisch erfolgreich dagegen wehren. Aber begründet wurde der Freispruch damit, dass Bücker nur vor seinen „Fans” geredet habe2. Damit wurde nicht nur das antifaschistische Gedenken am Jahrestag des Überfalls auf die Sowjetunion beleidigt, sondern klargestellt: Die staatliche Bedrohung gegen alle, die sich gegen die Kriegshetze gegen Russland wehren, bleibt bestehen.

Volk der Richter – diesen Eindruck hat man aber auch schon ohne diese Strafandrohungen. Landauf landab hört man diese Wortgruppe: „Völkerrechtswidriger Angriffskrieg Russlands” – wenn auch teils aus Nachlässigkeit oder Unwissenheit. Das Urteil ist also gesprochen. Aber von welchem Gericht?

Was ist überhaupt Völkerrecht? Ist das gut? Ist das schlecht? Ist das egal? Kann das weg?

Grundsätzlich ist das Völkerrecht nichts anderes als auch das bürgerliche Recht innerhalb von Staaten. Es handelt sich um Regeln, die ihren Ursprung in einer massenhaft verbreiteten – in kapitalistischen Gesellschaften vorherrschenden – Erscheinung haben – dem Warenaustausch. Entwickelter Warenaustausch wird durch Geld vermittelt. Das Geld setzt für alle die ganz verschiedenen Waren einen gleichen Maßstab. Deshalb müssen die Regeln des bürgerlichen Rechts auch von der Gleichheit der Käufer und Verkäufer ausgehen.

Die Bewegungen und Widersprüche, die durch den Warenaustausch entstehen, stellt Marx in seiner Schrift „Lohnarbeit und Kapital” so dar:

Es findet eine Konkurrenz unter den Verkäufern statt

Es findet auch eine Konkurrenz unter den Käufern statt

Es findet endlich eine Konkurrenz unter den Käufern und Verkäufern statt

Zusammenfassend schreibt Marx: „Die Industrie führt zwei Heeresmassen gegeneinander ins Feld, wovon eine jede in ihren eigenen Reihen zwischen ihren eigenen Truppen wieder eine Schlacht liefert. Die Heeresmasse, unter deren Truppen die geringste Prügelei stattfindet, trägt den Sieg über die entgegenstehende davon.”3

Das bürgerliche Recht gibt von diesen Vorgängen ein gutes Abbild, es verallgemeinert sie. Ein Urteil kann aber nicht allgemein bzw. nach Gutdünken gefällt werden. Wenn sich die Kontrahenten einigen müssten aber nicht können (oder wenn das Ganze in einer kriminellen Tat endet), dann geht das als Einzelfall vor Gericht. Der Einzelfall wird geprüft, indem beide Seiten gehört werden – das bürgerliche Recht ist dialektisch und untersucht immer den Widerspruch in einem Einzelfall. Das Gericht entscheidet dann. Hinter Gerichten stehen bewaffnete Formationen des jeweiligen Staates. Das bürgerliche Recht wird also, wenn anderes nicht hilft, mit Gewalt durchgesetzt.

Bevor ich zu den Unterschieden zwischen bürgerlichem Recht innerhalb von Staaten und dem Völkerrecht komme, möchte ich noch mal auf Aspekte des angeblichen „völkerrechtlichen Angriffskrieg” zu sprechen kommen.

Diese Formulierung hat mit dem bürgerlichen Recht nichts zu tun, viel mehr mit Willkür, die nur der weiteren Entrechtlichung der deutschen Justiz dienen kann. Bürgerliches Recht ist ohne die Behandlung beider Seiten des Widerspruchs nicht möglich. Selbst das großbürgerliche Blatt Frankfurter Allgemeine muss – bei aller Gegnerschaft zur Russischen Föderation zugeben: „Bemerkenswert ist zunächst, dass Russland in seinen jüngsten Verlautbarungen an vielen Punkten das Recht anführt. Präsident Wladimir Putin nimmt ausdrücklich Bezug auf das in der UN-Charta enthaltene Selbstverteidigungsrecht und behauptet, dass Russland den international nicht anerkannten ‚Volksrepubliken’ Donezk und Luhansk Nothilfe leiste. Außenminister Sergej Lawrow argumentiert mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker und mit Resolutionen der UN-Generalversammlung. Sogar der Pflicht, Selbstverteidigungsmaßnahmen dem UN-Sicherheitsrat anzuzeigen, ist Russland nachgekommen.”4 Da hätte ein Gericht wohl noch viel zu tun, um diese Widersprüche zu klären.

Und noch ein weiterer Aspekt: Die Wortgruppe „völkerrechtswidriger Angriffskrieg” kommt daher stolziert wie ein Ergebnis von angestrengter Gedankenarbeit, sorgfältiger Recherche und seriöser Analyse. Dazu habe ich eben schon einiges gesagt – es bedarf eines Gerichtsverfahrens, in dem beide Seiten gehört werden, bevor solch eine juristisch sich gebende Aussage überhaupt ernstzunehmen ist. Aber selbst ein Gerichtsurteil dieses Inhalts wäre keine wissenschaftliche Aussage über den Sachverhalt, sondern eben nur ein Gerichtsurteil, das sich auf gewisse Regeln stützt und zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung dient (wie auch immer diese Ordnung aussieht). Das bürgerliche Recht bewegt sich nur an der Oberfläche, denn es kennt keine Klassen. Das bürgerliche Recht kennt den Warenaustausch, und weiß nichts von der Warenproduktion. Aber in der Warenproduktion findet die Mehrwertproduktion statt. Die Kapitalisten können aus der Arbeit der Lohnarbeiter Profit schlagen – denn diese Arbeiter produzieren mehr an Werten, als zum Erhalt ihrer Arbeitskraft notwendig ist. Mit der Entwicklung des Kapitalismus sind so zwei Klassen entstanden – die Kapitalistenklasse und die Arbeiterklasse.

Das bürgerliche Recht kennt keine Klassen. Es ist dialektisch, aber nicht materialistisch. Deshalb kann ein juristisches Urteil niemals ein Mittel im menschlichen Erkenntnisprozess sein. Das dauernde Bestehen auf einer Formel wie „völkerrechtswidriger Angriffskrieg” von staatlicher Seite ist einfach nur Demagogie, mit der vor allem Linke eingeschüchtert werden sollen – und das funktioniert ganz offensichtlich. Wie gefährlich diese Demagogie ist, werde ich noch ausführen.

Nun zu den Unterschieden zwischen dem innerstaatlichen bürgerlichen Recht und dem Völkerrecht.

  1. Es gibt Unterschiede in den Rechtssubjekten, d.h. den Trägern von Rechten.

    Beim innerstaatlichen Recht sind die Rechtssubjekte alle natürlichen und juristischen Personen. Natürliche Personen sind Menschen. Juristische Personen sind alle Arten von Zusammenschlüssen, die Rechte wahrnehmen können – Vereine, Aktiengesellschaften, GmbHs, Gewerkschaften etc.

    Beim Völkerrecht sind die Rechtssubjekte Staaten.

    Daraus ergibt sich, dass das Völkerrecht formal tatsächlich kein Recht der Völker ist (womit mein Vortrag sich aber noch nicht erledigt hat). In anderen Sprachen ist die Bezeichnung sehr viel sachlicher – da heißt es z.B. internationales öffentliches Recht (öffentliches Recht, weil es sich um Staaten handelt, nicht um private Organisationen). Die Bezeichnung internationales öffentliches Recht wird auch von deutschsprachigen Juristen öfters verwendet. Was dieser Begriff „Völkerrecht” nun genau aussagen soll, weiß ich nicht. Ich fürchte aber, es hat eher nichts mit unserem Gesang „Völker hört die Signale” zu tun.

    Die Staaten, die Rechtssubjekte des Völkerrechts sind, vertreten die Interessen der jeweils in ihrem Land herrschenden Klasse. Was dann umso interessanter wurde, je mehr Völkerrechtssubjekte in Form der proletarischen Diktatur die Arena des internationalen Rechts betreten konnten.

    Oft wird betont, dass die Volksrepubliken im Donbass international „nicht anerkannt” seien. Damit wird suggeriert, dass es sich gar nicht um richtige Staaten bzw. Völkerrechtssubjekte gehandelt habe. Diese Ansicht ist „mit dem Grundprinzip der souveränen Gleichheit aller Staaten nicht vereinbar, da die Völkerrechtssubjektivität und damit alle sich aus ihr ergebenden Rechte eines tatsächlich bestehenden Staates auch keiner irgendwie rechtlich relevanten ‚Bestätigung’ durch irgendwelche anderen Staaten unterliegen oder gar bedürfen.”5

  2. Weiter gibt es Unterschiede in den Rechtsquellen.\ Beim innerstaatlichen Recht gelten im Wesentlichen geschriebenes Recht (z.B. Gesetze) und Richterrecht (Gerichtsurteile)

    Ganz anders ist es beim Völkerrecht: „Eine Besonderheit des Völkerrechts besteht darin, daß seine Grundprinzipien, Prinzipien und andere Normen nur auf dem Wege der Vereinbarung zwischen den Staaten zustande kommen.”6

    Das heißt: Die Uno ist kein Weltstaat. Die UN-Charta ist keine Weltverfassung. Die Uno-Vollversammlung ist kein Weltparlament. Der UN-Sicherheitsrat ist keine Weltregierung. Der Internationale Gerichtshof der UNO ist kein Weltgericht, und schon gar nicht sind das die dubiosen internationalen Strafgerichte, die verhältnismäßig neu – seit ca. Ende der 90er Jahre installiert wurden.

    Alle rechtsgültigen Verträge zwischen Staaten sind also Quellen des Völkerrechts. Das geht bis zu einem besonders abstrusen Beispiel, das uns Deutschland liefert. 1933 schlossen die Hitlerfaschisten einen Vertrag (Konkordat) mit der katholischen Kirche. Dieser Vertrag gilt weiter bis heute. Da nun der Vatikan ein souveräner Staat ist, gehört dieser Vertrag zu den gültigen Quellen des Völkerrechts.

    Aber nun zu den großen Vertragswerken, die nennenswerten Einfluss auf die Normen des Völkerrechts haben. Was wir direkt vor Augen haben, das ist die NATO, das ist die EU, die als solche Vertragswerke behandelt werden. Ebenso früher der Warschauer Vertrag. Es gibt weltweit viele solcher Vertragswerke mehrerer Staaten, die völkerrechtliche Wirkung haben, auch von abhängigen, armen Ländern.

    Die UNO-Charta ist zwar wie gesagt keine Weltverfassung, aber als Vertragswerk fast aller Staaten eine sehr bedeutende Quelle des Völkerrechts.

    Wir sehen an all dem, wie sehr die Entwicklung der Klassenkämpfe weltweit ständig Einfluss auf die Normen des Völkerrechts hat.

  3. Und schließlich gibt es Unterschiede in der Durchsetzung des Rechts.

    Ich habe vorhin gesagt, dass bewaffnete Formationen des Staates für die Durchsetzung des Rechts sorgen. Hier gibt es drastische, elementare Unterschiede. Und es ist geradezu lebenswichtig, sie zu beachten.

    Für die Durchsetzung des innerstaatlichen Rechts ist die Polizei zuständig (wir sehen mal davon ab, dass gerade hierzulande Polizisten auch militärische Aufgabe übernehmen). Wenn es sich um Klassenauseinandersetzungen handelt, kann das bis zum Bürgerkrieg gehen.

    Anders beim Völkerrecht: Hier können nur militärische Formationen einzelner Staaten für die Durchsetzung des Rechts sorgen. Was ist also, wenn man die Formel „völkerrechtswidriger Angriffskrieg” wirklich ernst nimmt und konsequent ist? Das Problem lässt sich nur durch Krieg, in dem Fall gegen Russland, lösen.

    Dafür gibt es bereits einen Präzedenzfall: Der Krieg gegen Jugoslawien, in dem die BRD mit Diplomatie und Bundeswehr eine entscheidende Rolle spielte. Ein erklärtes Kriegsziel war neben der Abtrennung der Provinz Kosovo, den Präsidenten Jugoslawiens, Milosevic, vor Gericht zu bringen (Milosevic war der damalige „Putin”). Der Krieg hat das Kräfteverhältnis des Bürgerkriegs in Jugoslawien verändert. Die serbische Regierung lieferte Milosevic schließlich an das extra gegen Jugoslawien eingerichtete internationale Strafgericht aus. Das Kriegsziel war erreicht – auch wenn es nicht ganz so lief wie gewünscht, da Milosevic, statt zu bereuen darauf bestand, dass Deutschland die Hauptschuld am gesamten Balkankrieg trägt. Da hatte er Recht. Er verstarb, bevor ein Urteilt gefällt wurde. (…)

    Was aber dieses Mantra „völkerrechtswidriger Angriffskrieg” bewirken kann und soll, ist, dass wir einen Blankoscheck geben sollen für einen direkten Krieg gegen Russland, falls er dem deutschen Imperialismus eines Tages notwendig und günstig erscheint. Das Gerichtsurteil soll schon feststehen, bevor überhaupt jemand vor Gericht steht, so dass es auch keinen Zweifel mehr gibt, falls man die russische Regierung bzw. Putin vors Gericht bomben will.

    Das zum Präzedenzfall Jugoslawien habe ich so ähnlich auch mal in der KAZ geschrieben7, nur ist mir jetzt bei der Referatsvorbereitung etwas aufgefallen, was mir damals noch nicht so klar war. Vielleicht habt ihr es schon gemerkt: Weder Milosevic noch Putin sind Völkerrechtssubjekte, sie sind nämlich keine Staaten. Sie sind, wie es in der Juristensprache heißt, natürliche Personen und damit Subjekte des innerstaatlichen Rechts. Was hier veranstaltet wird, ist das sogenannte Völkerstrafrecht, das mit dem Jugoslawienkonflikt in Kraft gesetzt wurde. Angeblich fußt dieses Völkerstrafrecht auf den Prinzipien der Nürnberger Kriegsverbrecher-Prozesse. Ich meine, es geht hier nicht um Fortsetzung des antifaschistischen Kampfes, sondern um imperialistische Einmischung und Drohung. Im Jahr 2002 ist das sogenannte Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs in Kraft getreten. Deutschland ist dabei. Von den fünf Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats sind drei nicht dabei: China, Russland und die USA.

Wie sollten wir uns zum Völkerrecht verhalten?

Ob es das Völkerrecht gibt, das können wir uns nicht aussuchen. Solange es auf dieser Welt mehr als einen Staat gibt, werden diese Staaten Beziehungen zueinander haben und insbesondere in irgendeiner Form Vereinbarungen über Wirtschaftsfragen, basierend auf dem Prinzip des Warenaustauschs treffen. Daraus folgt zwingend, dass ein Bedarf an verbindlichen Regelungen entsteht, und dieser Bedarf wird durch das Völkerrecht erfüllt. Ist das gut für uns? Oder schlecht? Wie vorhin schon gesagt, die beteiligten Staaten vertreten Klasseninteressen. Es hängt also alles vom internationalen Kräfteverhältnis ab, das wiederum in nicht geringem Maß von Klassenkämpfen in den betreffenden Ländern abhängt. Und das ist für uns der eigentlich wesentliche Punkt an diesem Völkerrecht – es ist ein Kampffeld der Bourgeoisie, das wir aufgrund der formalen Gleichheit ausnutzen können und müssen, so wie das innerstaatliche Recht oder z.B. das bürgerliche Parlament, soweit es unsere Kräfte zulassen. Dabei geht es nicht nur darum, ob unsere Bourgeoisie gegen das Völkerrecht verstößt – das ist gar nicht so überraschend, da ja schon die Gründung der BRD ein Verstoß gegen geltendes Völkerrecht war – nämlich gegen das Potsdamer Abkommen. Was will man denn da noch erwarten?

Was wir zu tun haben, ist genau das Gegenteil von dem, was die Bundesregierung von uns will, Nicht Richter über andere Staaten und Völker wollen wir sein, sondern auch beim Kampf um das Völkerrecht gilt: Es geht um den Einzelfall, und da ist unsere Zuständigkeit der Hauptfeind im eigenen Land!

Im Jahr 1864 wurde bei der Gründung der ersten Internationale von Karl Marx dargelegt, dass die Arbeiterklassen die Pflicht haben, „in die Geheimnisse der internationalen Politik einzudringen, die diplomatischen Akte ihrer respektiven (jeweiligen, d. Verf) Regierungen zu überwachen, ihnen wenn nötig entgegenzuwirken; wenn unfähig zuvorzukommen, sich zu vereinen in gleichzeitigen Denunziationen und die einfachen Gesetze der Moral und des Rechts, welche die Beziehungen von Privatpersonen regeln sollten, als die obersten Gesetze des Verkehrs von Nationen geltend zu machen.

Der Kampf für solch eine auswärtige Politik ist eingeschlossen im allgemeinen Kampf für die Emanzipation der Arbeiterklasse.

Proletarier aller Länder, vereinigt euch!”8

Besser kann man es wohl nicht sagen, warum und wie wir uns unter den herrschenden Zuständen um das Völkerrecht kümmern sollten.

Mit der Oktoberrevolution in Russland wurde zum ersten Mal ein Staat der Arbeiterklasse Völkerrechtssubjekt. Es gab keine Möglichkeit mehr, die Arbeiterklasse in den Beziehungen zwischen Staaten – und im Krieg zwischen den Staaten – zu ignorieren. Den imperialistischen Krieg als Verbrechen zu kennzeichnen, das Selbstbestimmungsrecht der Nationen zu achten und einen Frieden ohne Annexionen zu schließen, dieser Aufruf ging an die kriegführenden Länder. Und Sowjetrussland zu Hilfe zu kommen, dieser Aufruf ging an die Arbeiter der kriegführenden imperialistischen Länder.9

Für das Recht auf Selbstbestimmung hatte sich Lenin schon Jahre vor der Oktoberrevolution eingesetzt. Zum Beispiel 1916: „Der Schwerpunkt der internationalistischen Erziehung der Arbeiter in den unterdrückenden Ländern muß unbedingt darin liegen, daß sie die Freiheit der Lostrennung der unterdrückten Länder propagieren und verfechten. Ohne das gibt es keinen Internationalismus. Wir haben das Recht und die Pflicht, jeden Sozialdemokraten einer unterdrückenden Nation, der keine solche Propaganda treibt, als Imperialisten und Schurken zu behandeln. Das ist eine unbedingte Forderung, selbst wenn der Fall der Lostrennung vor der Errichtung des Sozialismus nur in einem von tausend Fällen möglich und „durchführbar" wäre. (…)

Umgekehrt muß der Sozialdemokrat einer kleinen Nation den Schwerpunkt seiner Agitation auf das zweite Wort unserer allgemeinen Formel legen: „freiwillige Vereinigung" der Nationen. Er kann, ohne seine Pflichten als Internationalist zu verletzen, sowohl für die politische Unabhängigkeit seiner Nation als auch für ihren Anschluß an den Nachbarstaat X, Y, Z usw. sein. In allen Fällen aber muß er gegen die kleinnationale Beschränktheit, Abgeschlossenheit und Isolation kämpfen, für die Berücksichtigung des Ganzen und Allgemeinen, für die Unterordnung der Interessen des Teils unter die Interessen der Gesamtheit.”10

Mit Gründung der Sowjetunion 1922 wurde die Ukraine als Nation anerkannt. Die Bevölkerung von Finnland sprach sich mehrheitlich gegen eine Zugehörigkeit zur Sowjetunion aus und nahm ihr Recht auf Lostrennung wahr.

Was haben wir aus all dem zu schließen (unter anderem): Erstens: Über Fragen des Selbstbestimmungsrechts sollten wir uns bei Lenin informieren, bei Putin eher nicht. Zweitens: Die Lostrennung der Krim und der Volksrepubliken im Donbass waren keine Annexionen durch Russland, sondern die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts. Es fanden Abstimmungen statt – auf der Krim sogar zweimal, das erste Mal 1991, noch vor dem Zerfall der Sowjetunion11. Was in der veröffentlichten Meinung geschieht, ist das regelmäßige Verschweigen der Abstimmungen auf der Krim. Und die schon vor den Referenden im Donbass die hellseherisch verkündete Nachricht von „Scheinreferenden”. All dies wird in einem Land behauptet, in dessen annektieren Teil niemals ein Referendum zum Anschluss der DDR an die BRD durchgeführt wurde.

1920 wurde der Völkerbund gegründet. Er half bei dem Recht auf Selbstbestimmung und beim Kampf um den Frieden überhaupt nicht weiter. Im Gegenteil, der Völkerbund war feindlich gegen die Sowjetunion gerichtet und, wie Lenin feststellte, „nur auf dem Papier ein Bund, in Wirklichkeit aber eine Gruppe von Raubtieren ist, die sich gegenseitig bekämpfen und einander nicht im mindesten trauen.”12

Die heuchlerischen Friedensbeteuerungen des Völkerbundes inspirierten Bertolt Brecht zu einer Strophe in seinen „Tierversen”:

Es war einmal ein Igel

Der fiel in einen Tiegel

Mit ranzigem Salatöl und

Das hat die Stacheln aufgeweicht

Da trat er in den Völkerbund.

Von einem blinden Tiger

Wurd er dann dort herumgereicht

Als ein bekehrter Krieger.

1933 kam die offene brutale Absage an irgendeine Art von Völkerrecht von einem der sich gegenseitig bekämpfenden Raubtiere – das faschistische Deutschland trat aus dem Völkerbund aus.

1934 trat die Sowjetunion dem Völkerbund bei. Stalin dazu: „Ende 1934 trat unser Land dem Völkerbund bei, ausgehend davon, dass er sich, ungeachtet seiner Schwäche, als eine Stätte zur Entlarvung der Aggressoren eignen und als ein gewisses, wenn auch schwaches, Friedensinstrument dienen könne, das imstande wäre, die Entfesselung des Krieges zu hemmen. Die Sowjetunion ist der Ansicht, dass man in so unruhigen Zeiten auch eine so schwache internationale Organisation wie den Völkerbund nicht ignorieren soll.”13 [ ]{.underline}

1939 wurde die Sowjetunion aus dem Völkerbund ausgeschlossen, offiziell wegen des Kriegs der Sowjetunion gegen Finnland, das zu einem Vasallenstaat Hitlerdeutschlands geworden war und zunehmend zu einer Bedrohung der Sowjetunion wurde. Heute wird dieser Krieg von den Anti-Russland-Hetzern gern mit dem heutigen Ukraine-Krieg verglichen. Damit soll suggeriert werden, dass Russland jetzt keiner Bedrohung ausgesetzt war und die Sowjetunion damals keiner Bedrohung ausgesetzt war. Auf was läuft diese Demagogie hinaus: Dann wäre ja der deutsche Faschismus niemals eine Bedrohung für die Sowjetunion gewesen. So wird Geschichte umgeschrieben!

Der Ausschluss der Sowjetunion war die letzte wichtige Tat des Völkerbundes, er spielte ab dann keine internationale Rolle mehr.

Nach dem Sieg über den Hitlerfaschismus erreichte das Völkerrecht zunächst eine neue Qualität. Die faschistischen Staaten hatten das bürgerliche Recht durch faschistische Willkür ersetzt. In Deutschland wurde das „gesundes Volksempfinden” genannt. Mit im Wesentlichen drei großen Maßregeln wurde das bürgerliche Recht international wieder in Kraft gesetzt – erstens das Potsdamer Abkommen einschließlich aller ihm vorangehenden Verhandlungen der Alliierten, zweitens die Kriegsverbrecherprozesse in Nürnberg und Tokio, drittens die Gründung der Vereinten Nationen, der UNO. Bürgerliches Recht in Form von antifaschistisch-demokratischem Recht, das ist der Charakter dieser Maßnahmen. Aber nicht nur das. Auch in diesem Fall wurde sich teilweise über bürgerliches Recht hinweggesetzt, aber nicht als faschistisches „gesundes Volksempfinden”, sondern als antifaschistisch-diktatorische Maßnahmen. Und das war richtig so. Worum handelte es sich:

Die Alliierten hatten vorläufig das Kommando über Deutschland übernommen. Polen wurden die Gebiete jenseits der Oder und Neiße zugesprochen. Die deutsche Bevölkerung wurde – so wie in der Tschechoslowakei – umgesiedelt nach dem Deutschland verbliebenen Territorium. Ein äußerst undemokratisches Vorgehen – aber angesichts der Betätigung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung in diesen Gebieten als Stütze der deutschen Faschisten blieb nichts anderes übrig.

Im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess wurde ein wichtiger Grundsatz des bürgerlichen Rechts aufgehoben: Das Rückwirkungsverbot. Rückwirkungsverbot heißt, man darf nicht für etwas bestraft werden, was zur Zeit der Tat keine Straftat war. Die Aufhebung des Rückwirkungsverbots im Nürnberger Prozess wurde damit begründet, dass die Strafbarkeit nach den von den zivilisierten Völkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen gegeben war. So konnten die Nazi- und Kriegsverbrecher sich nicht auf die faschistischen Gesetze der Nazidiktatur berufen. Dies wurde auch im Kontrollratsgesetz Nr. 10 der Alliierten verbindlich festgelegt. 1952 hat die Bundesregierung das für die BRD als für nicht gültig erklärt. Mit unglaublicher Dreistigkeit versuchten die westdeutschen Eroberer der DDR diese Formel auch für die DDR-Bürger anzuwenden!

Ebenso antifaschistisch-diktatorisch ist die Struktur des UN-Sicherheitsrats. Er besteht aus 15 Mitgliedern (ursprünglich 11 Mitgliedern). Fünf davon sind ständige Mitglieder. Ständige Mitglieder heißt so viel wie: für immer, sie sind nicht absetzbar oder abwählbar. Es handelt sich um die Mächte, die den deutschen und den japanischen Faschismus besiegt haben, das waren 1945: die Republik China, die Sowjetunion, Frankreich, die USA und Großbritannien. Die ständigen Mitglieder sind entscheidend, da jedes von ihnen gegen einen Mehrheitsbeschluss ein Veto einlegen kann. Eine weitere antifaschistisch-diktatorische Bestimmung ist die Definition der Feindstaaten durch die UNO. Das sind hauptsächlich Deutschland und Japan. Gegen sie können ohne Ermächtigung durch den Sicherheitsrat Zwangsmittel verhängt werden.

Schon nach kurzer Zeit wurden die antifaschistischen Ziele der UNO ausgehöhlt, indem die Bestimmungen des Potsdamer Abkommens in Deutschland durch die Westmächte ständig verletzt wurden.

Das Jahr 1949 wurde zu einem Jahr der Siege und der Niederlagen zugleich. Viele Länder befreiten sich vom imperialistischen Joch, gründeten Volksrepubliken. Darunter auch das große China. Ein Drittel der Menschheit war damit befreit. Gleichzeitig wurde das Potsdamer Abkommen in Stücke gerissen, indem der Separatstaat BRD gegründet wurde, den die westlichen Alliierten hofften, als Speerspitze gegen die Sowjetunion nutzen zu können. Diese antikommunistische Kehrtwendung machte auch vor der UNO nicht Halt. Die Volksrepublik China konnte den ihr zustehenden Sitz in der UNO nicht einnehmen. Die konterrevolutionäre Partei Kuomintang, die sich auf der chinesischen Insel Taiwan als „Republik China” verschanzt hatte, hielt statt der VR China den Sitz in der UNO und den Sitz im Sicherheitsrat, dies aufgrund der Stimmenverhältnisse in der UNO. Die Sowjetunion versuchte daraufhin, als Protest den Sicherheitsrat durch ihre Abwesenheit zu blockieren. Die anderen Mitglieder des Sicherheitsrats hielten sich aber nicht an die gültigen Regelungen und nahmen die Abwesenheit der UdSSR als Zustimmung. So kam es dazu, dass der Sicherheitsrat dem ersten antikommunistischen Krieg nach dem 2. Weltkrieg, dem Krieg gegen die Demokratische Volksrepublik Korea, das UNO-Mandat erteilte. Chinesische Volksfreiwillige eilten Korea zu Hilfe. Die UNO erklärte daraufhin die VR China zum Aggressor.

Stalin erklärte 1951 in einem Interview zu dieser Entwicklung:

„Die Organisation der Vereinten Nationen, die als Bollwerk zur Erhaltung des Friedens geschaffen wurde, verwandelt sich in ein Instrument des Krieges, in ein Mittel zur Entfesselung eines neuen Weltkrieges. (…)

Es ist bezeichnend für die gegenwärtigen Zustände in der UNO, dass zum Beispiel die kleine Dominikanische Republik in Amerika, deren Bevölkerung kaum 2 Millionen zählt, heute das gleiche Gewicht in der UNO hat wie Indien, und ein viel größeres Gewicht als die Chinesische Volksrepublik, die des Stimmrechts in der UNO beraubt ist. Somit verwandelt sich die UNO in ein Instrument des Aggressionskrieges und hört zugleich auf, eine Weltorganisation gleichberechtigter Nationen zu sein. (…)

Die Organisation der Vereinten Nationen betritt auf diese Weise den unrühmlichen Weg des Völkerbundes. Damit begräbt sie ihre moralische Autorität und setzt sich dem Zerfall aus.”14

Bis 1971 saß die Kuomintang-Clique als angebliche Republik China dargestellt durch die Insel Taiwan – in der UNO und deren Sicherheitsrat statt der Volksrepublik China. Die KP Chinas sah das mit einer gewissen Gelassenheit und vertraute auf die sich entwickelnden Kämpfe der Völker gegen den Imperialismus15, die nach und nach auch die UNO veränderten. Tatsächlich konnten sie der VR China den ihr zustehenden Sitz in der UNO erkämpfen, wie auch den Sitz im Sicherheitsrat. Taiwan wurde aus der UNO ausgeschlossen.

So wie die internationalen Klassenkämpfe keinen geradlinigen Verlauf nahmen, so auch die Entwicklung der UNO. Was man insbesondere auch an den Aktivitäten des deutschen Imperialismus in dieser Zeit bis heute nachvollziehen kann.

1973 wurden die beiden deutschen Staaten in die UNO aufgenommen. Nach dem Wortlaut der UN-Charta waren sie immer noch Feindstaaten. Aber es bestand ein allseitiges Interesse der Aufnahme – vom deutschen Imperialismus aber auch von anderen Imperialisten so genannt: „Wandel durch Annäherung”. Was sich zunächst gewandelt hat, war die Beziehung beider deutscher Staaten untereinander.

Über zwei Jahrzehnte hatte die BRD der DDR offen die Anerkennung verweigert und bis 1969 Staaten bedroht, die diplomatische Beziehungen zur DDR aufnehmen wollten.

Ab Ende der sechziger Jahre änderte die BRD ihre Taktik. Es wurde eine neue Theorie entwickelt und eine ganz neue Rechtsform erfunden, nämlich die staatsrechtliche statt der völkerrechtlichen Anerkennung. Was ist Staatsrecht? Die Bundeszentrale für politische Bildung erklärt das so:

„Das S. umfasst alle rechtlichen Regelungen, die den Aufbau, die Organisation, die Befugnisse und Tätigkeiten des Staates und das Verhältnis zwischen Staat und Bürger/Bürgertum betreffen. Das S. (auch: Verfassungsrecht) ist Teil des öffentlichen Rechts.”16

Es handelt sich also eindeutig um ausschließlich innerstaatliches Recht. Und was ist nun eine staatsrechtliche Anerkennung? Das ist so viel wie z.B. die Anerkennung des Freistaats Bayern durch die BRD. Die staatsrechtliche Anerkennung ist also im Grunde genommen die Einladung an die DDR, sich annektieren zu lassen.

1972 wurde der Grundlagenvertrag zwischen BRD und DDR abgeschlossen, in dem diese etwas versteckte Nicht-Anerkennung festgeschrieben wurde. Die CDU und CSU als Gegner der neuen Ostpolitik klagten gegen den Grundlagenvertrag. Aber das Bundesverfassungsgericht konnte die Kläger beruhigen: Es handelt sich im Grundlagenvertrag ganz bestimmt um keine Anerkennung der DDR. Die Grenze zwischen BRD und DDR sei zu sehen als „staatsrechtliche Grenze ähnlich denen, die zwischen den Ländern der Bundesrepublik verlaufen”.17

Die BRD schaffte es immer wieder, gegen demokratische Völkerrechtsprinzipien vorzugehen, ohne im juristischen Sinne völkerrechtswidrig zu handeln. So auch bei diesem Grundlagenvertrag, mit dem die BRD – unterstützt durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts – schon die Annexion der DDR androhte. Dieses Verhalten zum Völkerrecht sollte kein Einzelfall bleiben.

Ein weltweit beachtetes, ständiges Ärgernis war die in der BRD geübte Praxis, Nazi- und Kriegsverbrecher nicht zu bestrafen oder ihre Bestrafung zu verzögern, so dass die Verjährung ihrer Taten drohte oder sogar eintrat. Viele wurden nicht wegen Mord, sondern wegen Totschlags bestraft, bzw. nicht bestraft, weil die Verjährungsfrist für Totschlag kürzer war als für Mord. Dass die Taten oft als Totschlag gewertet wurden, liegt an dem speziellen (west)deutschen Strafgesetz – nicht die Tat wird bestraft, sondern die Eigenschaften des Täters. Da wurde oft so geurteilt, dass die Nazitäter nicht aus niedrigen Beweggründen, sondern vielmehr aus äußerst edlen oder zumindest verständlichen Beweggründen gemordet hatten und deshalb nicht als Mörder gelten konnten. Man hatte, um Zeit zu gewinnen, den Beginn der Verjährung auf 1949 festgelegt. 1969 drohte die 20-jährige Verjährungsfrist einzutreten – man kam nicht zurande, vertagte das Ganze und verlängerte die Verjährungsfrist für Mord auf 30 Jahre. Man fürchtete zu der Zeit auch, dass eine UNO-Konvention zur Nichtverjährbarkeit dieser Taten auf den Tisch kommen könnte – was im Jahr 1969 dann auch geschah. Die DDR trat dieser Konvention sofort bei. Die BRD ist dieser Konvention bis heute nicht beigetreten. Vielmehr fand man in der Verjährungsdebatte im Bundestag schließlich die Lösung, für Mord überhaupt die Verjährungsfrist aufzuheben.

Gegen diese Rechtsverdrehung gab es demokratischen Protest – wenn auch viel zu geringen. 32 Persönlichkeiten unterschrieben eine Erklärung: Für ein ehrliches und klares Nein zur Verjährung von Naziverbrechen!” Zu den Unterzeichnern gehörten Wolfgang Abendroth, Bernd Engelmann, Peter Gingold, Thomas Schmitz-Bender, Ute Schilde, Hannes Wader und Norman Paech. In der Erklärung heißt es:

„Nazi Vergangenheit verjährt so lange nicht, wie sie unsere Zukunft bedroht. Mit der Nazi Vergangenheit kann es keinen Frieden, auch keinen Rechtsfrieden geben. (…) Mord ist nicht gleich Mord. Aus den gleichen Gründen, die gegen eine Verjährung von Nazi- und Kriegsverbrechen sprechen, wäre es aber keine Lösung, sondern ein folgenschwerer Fehler, die Aufhebung der Verjährung für jedweden Mord zu verfügen. Denn es spricht der Gerechtigkeit Hohn, wenn die Verfolgung von Naziverbrechern nur dann möglich sein soll, wenn zugleich anderen Menschen ein Recht genommen wird: Menschen, die sich zwar eines so schweren Verbrechens für das Mordes schuldig gemacht haben, aber nichts für die Verbrechen des Nazi- Regimes können. Es ist eine erschreckende Preisgabe von Anschauungen, für die allen voran die Arbeiterbewegung gestritten hat, wenn ausgerechnet ein sozialdemokratischer Justizminister für eine Nichtverjährung jedweden Mordes anführt, dass solche Menschen sowieso nicht resozialisierbar seien. (…) die Gleichstellung mit solchen Taten in Form der Nichtverjährung jedweden Mordes bedeutet eine ungeheure Verharmlosung der Nazi-Verbrechen. Denn dieses Foltern und millionenfach Morden war Teil eines staatlich organisierten Verbrechens, geschah gegen Bezahlung und im Namen einer Ideologie, die die Ausrottung von Teilen des eigenen Volks und anderen Völkern für Rechtens erklärte. Damit sich dies nie wiederholt, deswegen kann und darf es hierfür keine Verjährung geben. (…) Umso angebrachter und notwendiger ist es; durch den sofortigen Beitritt zu dieser UNO-Konvention auf gerechte und einfachste Weise dafür zu sorgen, dass der staatlich organisierte Mord des Nazi-Regimes auch nach dem 31.12.1990 weder verjährt noch bagatellisiert wird durch die Gleichstellung mit der allgemeinen Kriminalität.”18

Beim Bundestag fand das kein Gehör, eine ganz große Koalition beschloss die Nichtverjährung von Mord. Allerdings gab es einen Lichtblick in dieser Debatte. Das waren die Beiträge einer kleinen Minderheit von Abgeordneten, die sich um ein ehrliches Nein zur Verjährung von Nazi Verbrechen wenigstens bemühten. Zu ihnen gehörte der Abgeordnete Maihofer und einige weitere FDP-Abgeordnete und der SPD Abgeordnete Waltemathe. Maihofer erklärte in seiner Rede: „Über Mord wächst irgendwann mal Gras, und zwar schon in einer Generation im Regelfall. Aber über Auschwitz wächst kein Gras und noch nicht mal in 100 Generationen19. Er fand kein Gehör. Bezeichnend für die überwältigende Mehrheit im Bundestag war der Debattenbeitrag des CDU- Abgeordneten Blumenfeld: „Aber … die diesen Gruppenantrag eingebracht haben, haben nicht nur auf die Vergangenheit abgestellt, sondern auch auf die Gegenwart und die Zukunft. Etwa auf die brutalen Gewalttaten sogenannter politischer Terroristen und auch derjenigen, die gegen die Deutschen … drüben jenseits der Grenze gewalttätig und mit Mord diese unsere Menschen überzogen haben und auch für die gilt, dass es keine Verjährung geben darf.”20 Das haben alle, die die DDR geschützt haben, ja dann nach der Annexion zu spüren bekommen. Und es ist schon bedrückend, wie viele fortschrittliche Menschen damals mit der Nichtverjährbarkeit von Mord zufrieden waren und nicht darüber nachgedacht haben, warum die die herrschende Klasse hierzulande die UNO-Konvention über die Nichtverjährbarkeit von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit scheut wie der Teufel das Weihwasser.

Ein weiteres Beispiel für ganz legale Völkerrechtsverdrehung ist die Behandlung des Münchner Abkommens von 1938 durch die BRD. Das Münchner Abkommen, das die faschistische deutsche Regierung mit Frankreich, Großbritannien und Italien abschloss, beinhaltete die sofortige Räumung des Grenzgebietes Sudetenland durch die Tschechoslowakei und Übereignung an das faschistische Deutschland. Der Tschechoslowakei wurde nicht mal ein Mitspracherecht eingeräumt. Frankreich und Großbritannien hegten die Hoffnung, durch diese Appeasement-Politik den Appetit des aggressiven faschistischen Deutschlands zu stillen – bekanntlich war das Gegenteil der Fall. Das Münchner Abkommen war eine wichtige Etappe auf dem Weg zum Krieg gegen die Völker Europas.

1973 schloss die BRD einen Vertrag mit der ČSSR. Es war der letzte Vertrag in der Reihe der Ostverträge im Zuge der Politik des „Wandels durch Annäherung”. Die CSSR beharrte zunächst auf der berechtigten Forderung, dass das Münchner Abkommen nicht nur als ungültig zu betrachten sei, sondern als null und nichtig von Anfang an. Es dauerte etwas, aber schließlich hat die BRD dann doch durchgesetzt, dass sie eine solche Formulierung nicht unterschreiben musste. Dasselbe Spiel wiederholte sich, als 1997 eine Deutsch-Tschechische Erklärung zwischen BRD und Tschechischer Republik geschlossen wurde. Diese Erklärung enthält erschütternde Geschichtsverdrehungen und stellt die Geschichte von 1945 so dar, als hätte die Tschechoslowakei sich durch die Umsiedlungen usw. völkerrechtlich vergangen. Das Münchner Abkommen für null und nichtig von Anfang an zu erklären, war natürlich wieder nicht drin. Bundeskanzler Kohl drohte vor Abschluss der Erklärung: Wenn Prag “sich gute Nachbarschaft wünsche”, müsse es die deutsche Geschichtsschreibung “akzeptieren”.21

Die KSČM (KP Böhmens und Mährens) organisierte eine Kampagne gegen die Deutsch-Tschechische Erklärung und forderte zur internationalen Solidarität mit dieser Kampagne auf. Leider war sie da bei der Mehrzahl der deutschen Linken an der falschen Adresse. Wieder mal war man froh, dass nun endlich eine friedliche Lösung gefunden sei.

Im Gegensatz dazu schrieb der Vorsitzende der KSČM unter Bezugnahme auf die Entwicklung in Europa nach 1933: „Wir würden es bedauern, wenn in der Zukunft gesagt werden könnte, dass mit dem Angriff auf die Souveränität der Tschechischen Republik die erneute Unterwerfung Europas begann.”22

Übrigens haben von den vier Staaten, die an dem Münchner Diktat beteiligt waren, drei anerkannt, dass dieses Abkommen null und nichtig von Anfang an war: Frankreich, Großbritannien und Italien.

In den neunziger Jahren, nach der Annexion der DDR, gliederte sich die BRD mehr und mehr in das außenpolitische Weltgeschehen auch militärisch ein. 1994 erklärte das Bundesverfassungsgericht jegliche Einsätze der Bundeswehr, auch außerhalb des NATO-Gebiets, für verfassungskonform. Im gleichen Jahr erklärte die Generalversammlung der UNO die Feindstaatenklausel für obsolet. Es konnte also richtig zur Sache gehen.

Mit Eigenmächtigkeiten, Intrigen und Geheimdiplomatie hatte die BRD den Konflikt in Jugoslawien geschürt. Ein militärisches Eingreifen unter UNO-Mandat scheiterte im Sicherheitsrat, weil Russland sein Veto einlegte. So wurde der Krieg gegen Jugoslawien durch die NATO unter Anstiftung Deutschlands ohne UNO-Mandat geführt. Er war – so sind sich die meisten Völkerrechtsjuristen einig – völkerrechtswidrig. Mit UNO-Mandat wäre er nicht völkerrechtswidrig gewesen. Und was meint ihr – wäre der Jugoslawien-Krieg unter UNO-Mandat besser gewesen? Doch wohl nicht. Wir sollten also sehr gut überlegen, ob diese Vokabel „völkerrechtswidrig”, selbst wenn sie eindeutig stimmt, wirklich aufklärerisch wirkt. Wie gesagt, das Attribut „völkerrechtswidrig” enthält keine Analyse, keine konkrete Beurteilung. Nehmen wir nur die solidarische Hilfe der chinesischen Volksfreiwilligen Anfang der fünfziger Jahre im Korea-Krieg – dafür wurde die VR China von der UNO als „Aggressor” gebrandmarkt. Die VR China hat also demnach völkerrechtswidrig gehandelt! Den Schuh müssen wir uns nicht anziehen. Die chinesischen Volksfreiwilligen verdienen unser Gedenken an ihren tapferen und opferreichen Einsatz.

Als Russland im April dieses Jahres im UNO-Sicherheitsrat routinemäßig den Vorsitz übernahm, war das Gestöhn groß, wie unerträglich das sei. Was für den deutschen Imperialismus vor allem unerträglich ist, das ist die Tatsache, dass er seit Beginn der neunziger Jahre erfolglos um den Status eines ständigen Mitglieds des Sicherheitsrats kämpft, d.h. also eines Mitglieds, das unabsetzbar und mit einem Vetorecht ausgestattet ist. So will der deutsche Imperialismus dreist in die Reihe der Befreier vom deutschen und japanischen Faschismus treten. Dazu eine Anmerkung: Russland hat beim Zerfall der Sowjetunion mit Zustimmung der anderen Sowjetrepubliken den Platz der UdSSR im Sicherheitsrat übernommen, besetzt diesen Platz also mit Recht.

2005 legte die BRD gemeinsam mit Staaten aus Afrika, Asien und Lateinamerika der Generalversammlung einen Entwurf zur Reform des Sicherheitsrats vor – versuchte also auf den Schultern der armen und abhängigen Länder sein Ziel zu erreichen. Allerdings musste der Antrag schon vor der Zusammenkunft der Generalversammlung zurückgenommen werden, weil es aussichtslos war, die erforderliche Zweidrittelmehrheit zu erreichen.23

Heutzutage ist angesichts des turnusmäßigen Vorsitzes Russlands schon wieder die Diskussion um eine Reform des Sicherheitsrats entbrannt. Manche Linke hierzulande meinen auch, es sei jetzt an der Zeit, den Sicherheitsrat zu reformieren. Es macht aber einen enormen Unterschied, ob Ländern wie Indien oder Brasilien für sich diese Forderung aufstellen, oder ob der deutsche Imperialismus das macht, gegen den sowie gegen den japanischen Imperialismus die UNO und das Konstrukt des Sicherheitsrats mit den ständigen Mitgliedern geschaffen wurde. Da sollten wir die Position vertreten: Für dieses Deutschland keinen Platz als ständiges Mitglied im Sicherheitsrat!

Ob das Völkerrecht ein Recht der Völker ist oder werden kann, hängt einzig vom Kräfteverhältnis im Klassenkampf ab. Dass der nächste Weltkrieg so lange aufgeschoben werden konnte, lag nicht an der Existenz der UNO. Sondern das lag daran, dass sehr große Teile des Erdballs dem Imperialismus entzogen waren, von dem nun ein Teil vom Imperialismus mit sozusagen friedlichen Mitteln zurückerobert worden ist. Die UNO kann nur ein Hilfsmittel sein für den Frieden unter den Völkern, vorausgesetzt, die Arbeiterbewegung geht wieder nach vorn. Wenn nicht, wird die UNO ein Hilfsmittel für die Intrigen der Imperialisten sein. Wenn wir jetzt hier und heute für den Frieden kämpfen wollen, dann geht das nicht, ohne dass wir uns weigern, uns zu einem Volk von Richtern und Henkern machen zu lassen.

Gleichgültigkeit gegen das Völkerrecht schadet unserem Kampf genauso wie kindliches Vertrauen in das Völkerrecht. Das wollte ich mit meinen Beispielen zur sogenannten staatsrechtlichen Anerkennung der DDR, zur UNO-Konvention über die Nichtverjährbarkeit von Naziverbrechen und zur Frage der Ungültigkeit des Münchner Abkommens von Anfang an deutlich machen. An die Stelle der Gleichgültigkeit und des kindlichen Vertrauens sollten wir den antifaschistischen Kampf um ein demokratisches Völkerrecht setzen, gegen die deutsche Regierung, gegen die deutsche Bourgeoisie.


  1. Weiteres dazu siehe KAZ Nr. 382, S. 36 oder https://www.kaz-online.de/artikel/besichtigung-der-grundrechte-10 

  2. https://www.unsere-zeit.de/freispruch-fuer-heinrich-buecker-4779603/ 

  3. Karl [Marx: Lohnarbeit und Kapital, in: MEW Bd. 6, S. 402 

  4. https://www.faz.net/einspruch/hat-sich-russland-vom-voelkerrecht-verabschiedet-17867471.html 

  5. Arbeitsgemeinschaft für Völkerrecht beim Institut für Internationale Beziehungen an der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Hrsg.): Völkerrecht – Lehrbuch, Teil1, Berlin 1973, S. 291 

  6. Institut für Internationale Beziehungen Potsdam-Babelsberg (Hrsg.): Die Entstehung der UNO, Berlin 1977, S. 15 

  7. Der vorige Absatz ist, soweit kursiv gesetzt, zitiert aus der KAZ Nr. 381, „Das Bekenntnis”, https://www.kaz-online.de/artikel/das-bekenntnis 

  8. Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation, in: MEW Bd. 16, S. 13 

  9. Lenin: Dekret über den Frieden, LW Bd. 26, S. 239f 

  10. Lenin: Die Ergebnisse der Diskussion über die Selbstbestimmung, LW Bd. 22, S. 354f 

  11. https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-4-vom-15-maerz-2022.html#article_1306 – Kapitel „Der Unabhängigkeitskampf der Krim”. Außerdem: https://www.sudd.ch/event.php?lang=de&id=ua031991 

  12. Lenin: Rede auf der II. Gesamtrussischen Konferenz, LW Bd. 31, S. 160 

  13. J.W. Stalin: Rechenschaftsbericht an den XVIII. Parteitag über die Arbeit des ZK der KPdSU (B), siehe https://kommunistische-geschichte.de/StalinWerke/stalin-band14.pdf, S. 103f 

  14. J.W. Stalin: Interview mit einem Korrespondenten der „Prawda”, siehe https://kommunistische-geschichte.de/StalinWerke/stalin-band15.pdf, S. 151f 

  15. Siehe z.B. Mao Tsetung: Reden auf einer Konferenz der Sekretäre der Parteikomitees der Provinzen, Städte und autonomen Gebiete, in: Mao Tsetung – Ausgewählte Werke Bd. V, Peking 1978, S. 410 

  16. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/18280/staatsrecht/ 

  17. https://www.help4you.info/pdf/BVerfG_2_BvF_1-73_KVRE202088801.pdf 

  18. Kommunistische Arbeiterzeitung (KAZ) Nr. 159, S. 7 

  19. KAZ Nr. 161, S. 8 

  20. KAZ Nr. 162, S. 8 

  21. http://www.matthiaskuentzel.de/contents/ex-nunc-oder-ex-tunc 

  22. Brief des Vorsitzenden der KSČM Miroslav Grebeníček, veröffentlicht in der Postmark Praha vom 17.01.1997, aus dem Englischen übersetzt von Renate Hennecke 

  23. Weiteres dazu siehe KAZ Nr. 314: Wieder wird Deutschland der Platz an der Sonne verwehrt, https://www.kaz-online.de/artikel/wieder-wird-deutschland-der-platz-an-der-sonne-ver